Sichtbar machen, was sich im Verborgenen abspielt
Wir treffen Karin Seiler, die den Bachelor Major Knowledge Visualization in der gleichnamigen Fachrichtung des Departements Design leitet und auch im Bachelor Design doziert.
Sind Bilder inklusiver, als Texte es sein können? Eine «steile Einstiegsfrage», findet Karin Seiler, die zielstrebig auf ihr Lieblingsthema zu sprechen kommt: «Bilder sind nicht per se inklusiver, aber sie sind bedeutungsoffen. Offener als die gesprochene oder geschriebene Sprache. Bilder können ebenso codiert und decodiert werden - wenn dafür die nötige Bildkompetenz vorhanden ist.» Seiler spricht von Visual Literacy, zu der sie ab diesem Herbstsemester erstmals einen Minor anbietet. «Bilder haben eine eigene Sprache. Es gelten für sie nicht gerade Regeln und Gesetze, aber Gesetzmässigkeiten.»
Bilder, Bilder, Bilder - im öffentlichen Raum, auf Social Media oder in den klassischen Medien. Stumm und doch laut in ihrer Masse. Zur bereits vorhandenen Bilderflut kommt noch mehr Content hinzu - generiert von künstlicher Intelligenz. Spricht Seiler über die Faszination von Bildern, wird das Gespräch angenehm ruhig und differenziert. Wenn sie sich an jene Feuerlilie erinnert, die sie als Studentin im ersten Semester an der damaligen Schule für Gestaltung Zürich aquarellierte. Mit elf Jahren hatte sie im Fernsehen den Beruf der Wissenschaftlichen Illustratorin entdeckt, was sie schliesslich an dieses Aquarellbrett führte. «Das genaue Hinsehen und Darstellen ist eine Art von Würdigung. Dieses Staunen, wenn man die Natur beobachtet und dem eine Form verleiht.» Als freie Illustratorin hat sie später das Vergangene und das Zukünftige sichtbar gemacht. «Alles, wo man eigentlich nicht hindurchsehen kann, was sich im Verborgenen abspielt. Heute gibt es viele bildgebende Verfahren, die das auch können. Aber die Geräte können nicht das, was wir tun: Priorisieren. Weglassen. Ordnung reinbringen.»
Neben dem Abschluss zur Wissenschaftlichen Illustratorin hat Seiler zunächst hochschuldidaktische Weiterbildungen und danach den Master Art Education erworben. An der ZHdK leitet sie heute den Bachelor Major Knowledge Visualization in der gleichnamigen Fachrichtung des Departements Design. Sie doziert im Bachelor Design und in den interdisziplinären Modulen des Departements. Das Vermitteln liegt ihr: «Ich mag es, zu erspüren, an welchem Punkt im Prozess sich eine Person gerade befindet. Ich kann dies schnell in Sprache übersetzen und damit etwas bei den Studierenden anstossen.»
Dinge in Bewegung bringen, als Designerin die Welt etwas besser machen: Diesen humanistischen Grundgedanken erlebt Seiler auch in ihrer Familie. Die Eltern sind Dokumentarfilmer; Mitte der Sechzigerjahre setzten sie sich künstlerisch mit Themen wie den in die Schweiz gekommenen italienischen Arbeitskräften oder Menschen, die fremdplatziert wurden, auseinander. Ihre Arbeiten gehören zum Kanon des Schweizer Dokumentarfilms. «Sie gaben den Menschen das Wort, die man nicht hat sprechen lassen.» Seilers Elternhaus ist geprägt von Diskussionen am Küchentisch, einem Kommen und Gehen von Künstler und Personen aus der Politik. «Sich für andere einzusetzen war meinen Eltern sehr wichtig. Diese Haltung habe ich von ihnen übernommen.»
Was kann Design ausrichten?
Seit 2011 ist Seiler Dozentin in den interdisziplinären Modulen des Departements Design. Sich mit ihren Studierenden zu einem Thema auf Augenhöhe auszutauschen, ist ihr ein Anliegen. 2016 herrschte Krieg in Syrien, und viele Menschen flüchteten in die Schweiz. «Design Activism» war damals das Thema eines interdisziplinären Moduls, das vom Bachelor Design angeboten wurde. Mit ihrem Co-Dozenten Antonio Scarponi erarbeitete Seiler das Projekt «Hic et nunc», das so viel bedeutet wie «Hier und jetzt».
«Wir sagten damals: Wenn wir das Thema Aktivismus haben, bleiben wir nicht einfach hier im Toni.» Die beiden Dozierenden begaben sich mit den Studierenden in eine Unterkunft für Geflüchtete in der Messehalle in Oerlikon, später in die Containersiedlung Fogo am Bahnhof Altstetten. Unter der Fragestellung «Was können wir mit vereinten Designkompetenzen hier Positives hinterlassen?» entstanden etwa eine Bibliothek, ein Projekt, das spielerisch die deutsche Sprache vermittelt, und ein Stadtplan mit für die Geflüchteten relevanten Hot Spots. Für diese Unterrichtsmodule bekam das Projekt «Hic et nunc» den Goldenen Hasen der Zeitschrift Hochparterre verliehen, der heute in Seilers Büro steht.
Zur Selbstermächtigung befähigen
War der Fokus ihrer Lehre zunächst stark handwerklich geprägt, interessiert sich Seiler seit einiger Zeit verstärkt für das Thema Arbeitsmethodik. «Ich will die Studierenden ermächtigen, aus diesem Schuldenken raus und rein in ein selbstständiges Denken zu kommen.» Seiler spricht vom Moment des Sich-Exponierens, der empfindsam mache. Ihre Studierenden möchte sie dabei unterstützen, nüchtern und gleichzeitig liebevoll auf das zu schauen, was sie geschaffen haben. Was nervt sie selbst am Hochschulbetrieb, von dem sie seit 16 Jahren Teil ist? «Ich würde gerne die vielen laufenden Prozesse zu Ende geführt und konsolidiert sehen, um den Fokus auf die Inhalte und die Lehre richten zu können.» Und sie schildert die Monty-Python-Szene mit den Ärzten im OP, die sich an ihren grossartigen Maschinen ergötzen, bis sie merken, dass noch irgendetwas fehlt, nämlich der Patient.
Das ultimative Wurmloch
Früh hat Seiler auch digital gearbeitet und nun mit ihren Studierenden Experimente mit künstlicher Intelligenz durchgeführt. Wie verändert diese Technik die Anforderungen an unsere Bildkompetenz? «Die technische Machart eines Bildes zu erkennen, wird wichtiger. Dass man sich noch viel intensiver fragt: Wie ist dieses Bild entstanden? Ausserdem wird es stärker um Fragen der Bildethik gehen: Was ist wie deklariert? Was geschieht mit den Urheberrechten?» Seiler ist sich der Ängste ihrer Studierenden bewusst. Ersetzt KI bald deren Arbeit? Für sie steht dabei wieder deren Ermächtigung im Vordergrund. «Wie kann ich das, was KI bietet, als Designerin für meine Expertise nutzen? Wir haben der KI doch noch einiges voraus: Warum sollte ich mir etwas anschauen, etwas lesen wollen, von dem sich niemand die Mühe gemacht hat, es selbst zu schreiben? Kopf- und Herzarbeit wird KI niemals schaffen. Solange sich Menschen berühren lassen, bleibe ich entspannt. Ich sehe ein grosses Potenzial für Designer, für Entwurfsprozesse und Inspiration. Dieses Arbeiten hat aber auch einen Preis. KI ist das ultimative Wurmloch.»
Minor Visual Literacy
Im Herbst startet zum ersten Mal der von Karin Seiler ausgeschriebene Minor «Visual Literacy». Er vermittelt Gestalter aller Disziplinen die Fähigkeit, im Umgang mit medial verbreiteten Bildern visuell intelligent zu agieren, sachlich zu argumentieren und die gesellschaftliche Bedeutung von Bildern aktiv und verantwortungsbewusst zu verhandeln. «Selbst Musiker profitieren davon. Letztlich sind auch sie damit konfrontiert, kommunizieren zu müssen: Wie inszeniere ich etwa meinen visuellen Auftritt?» Seiler profitiert hier von ihrer Erfahrung aus der Wissenschaftlichen Illustration: «Wir arbeiten häufig mit Partner aus den Naturwissenschaften. Da gibt es einen Bedarf, komplexe Inhalte mit Bildern zu vermitteln, und dieser Bedarf ist deutlich gestiegen seit der Digitalisierung. Zwei Welten treffen aufeinander, und so sind wir auch Übersetzer. Wir müssen Bedürfnisse in eine Sprache übersetzen, die visuell etwas transportiert. Eine schöne Herausforderung, nun gerade mit und wegen KI etwas zu entwickeln, was ganz nah am aktuellen Geschehen ist. Und dabei Menschen an der ZHdK zu entdecken, die da etwas beizutragen haben und mit denen man zusammenarbeiten kann.»